Sehr lange fand die Forschung zu Autismus ausschließlich mit Kindern statt – insbesondere mit weißen Jungen. Zum einen werden aber auch diese Kinder irgendwann zu Erwachsenen und bleiben ihr Leben lang autistisch. Zum anderen gibt es aber auch zahllose Erwachsene mit Autismus, die in der Kindheit allerdings nie eine Diagnose erhalten haben. Viele fragen sich seit Jahrzehnten, warum sie manchmal so anders sind als andere. Warum ihnen Dinge schwer fallen, die alle anderen meistern. Daher ist es wichtig, auch über das Thema Erwachsene mit Autismus zu sprechen.
Warum werden immer mehr Erwachsene mit Autismus diagnostiziert?
Glücklicherweise hat vor allen in den letzten 10-20 Jahren eine Entwicklung begonnen, Autismus besser zu verstehen. Es werden mehr Stimmen von tatsächlich betroffenen gehört. Es werden Bücher von Autist*innen veröffentlicht und Studien von Autist*innen durchgeführt. Sie sind eine wichtige Ergänzung zu wissenschaftlichen Arbeiten von Forschenden, die nicht selbst autistisch sind. Viel zu lange war der Blick darauf beschränkt, wie sich Autismus nach außen hin äußert – also wie andere Autismus wahrnehmen – und nicht wie es sich für Autist*innen selbst äußert. Dadurch wurden viele Personen nicht diagnostiziert, die autistische Merkmale durch Maskieren gut überspielen konnten. Es wird immer mehr über Autismus bei Erwachsenen bekannt und immer mehr autistische Erwachsene berichten über ihre Erfahrungen. Dadurch wird auch der Blick von psychologischen Fachpersonen besser, wenn sie eine Diagnose stellen. Die Erwachsenen, die damals als Kinder durch das Raster gefallen sind, holen jetzt ihre Diagnose nach.
Warum bekommen immer mehr Frauen eine Autismus-Diagnose?
Insbesondere autistische Frauen sind lange viel zu selten diagnostiziert worden. Da die ersten Forschungen vor allem mit Jungen durchgeführt wurden, entstanden auch Diagnose-Kriterien, die vor allem auf Jungen zutrafen. Dadurch wurden wiederum vor allem Jungen diagnostiziert, was das Vorurteil immer weiter festigte, dass Autismus fast nur bei männlichen Personen auftauchen würde.
Glücklicherweise wächst auch hier das Wissen und das Bewusstsein, dass sich Autismus bei Mädchen und Frauen (und auch bei nicht binären Personen und trans Männern) häufig anders zeigt. Spezialinteressen sind oft weniger „auffällig“ (zum Beispiel Pferde statt Klischees wie Zugfahrpläne). Viele Mädchen lernen schon sehr früh in der Kindheit, dass von ihnen erwartet wird, sich anzupassen und ruhiger zu sein. Das wird verinnerlicht und autistisches Verhalten unterdrückt. Oft mit starken Auswirkungen auf die Psyche. Viele Frauen erhalten zahlreiche Diagnosen wie Angststörung, Depressionen, Ess-Störungen, manche sind suizid-gefährdet bevor endlich die Diagnose Autismus kommt. Auch ADHS wird häufiger eher diagnostiziert als Autismus.
Daher ist es nicht überraschend, dass vor allem Frauen aktuell häufiger diagnostiziert werden, weil hier eine ganze Generation nachholt, was in der Kindheit verpasst wurde.
Warum ist auch eine späte Autismus-Diagnose noch sinnvoll?
Als Erwachsene mit Autismus ist die Diagnose häufig nicht mehr nötig, um im Schulsystem nötige Anpassungen zu erhalten. Trotzdem erleichtert es auch eine späte Diagnose, sich endlich selbst besser zu verstehen. Endlich zu wissen, warum man so tickt – und das das absolut gut und richtig ist. Häufig traut man sich eher, nach Anpassungen im Beruf zu fragen. Nicht zuletzt lernt man, gelassener und wohlwollender zu sich selbst zu sein. Nicht mehr enttäuscht und frustriert, weil man manches nicht so mühelos schafft wie andere. Stattdessen kann man vielleicht stolz auf Dinge sein, die man gut gemeistert hat.
Was ist eine Selbstdiagnose bei Erwachsenen mit Autismus?
Eine Autismus-Diagnose zu erhalten ist nicht leicht. Selbst in Deutschland mit einer guten, in der Regel kostenlosen medizinischen Versorgung, gibt es viel zu wenige Stellen. Viele sind rein auf Kinder ausgelegt und führen keine Diagnostik bei Erwachsenen durch. Die Wartelisten sind daher sehr lang – wenn man überhaupt auf die Warteliste kommt.
In anderen Ländern sind die Zugänge zu einer Diagnose häufig noch schwieriger, Kosten müssen häufig selbst getragen werden und stellen damit eine ungerechte Barriere da.
Aus diesen Gründen sind in der Autismus-Community Selbst-Diagnosen genauso anerkannt wie formale Diagnosen. Untersuchungen haben gezeigt, dass rund 80 % der Selbst-Diagnosen korrekt waren, wenn später noch eine formale Diagnose nachgeholt wurde. In der Praxis ist es bei vielen Erwachsenen auch so, dass sie zunächst über Jahre selbst recherchieren und sich eine Selbstdiagnose stellen, bzw. erkennen, dass sie autistisch sind. Die formale Diagnose dient lediglich als Bestätigung der eigenen Erkenntnis.
Sind Selbstzweifel nach der Autismus-Diagnose normal?
Ja, viele Erwachsene mit Autismus haben nach der Diagnose immer wieder das Gefühl, vielleicht doch nicht autistisch zu sein. Das gehört bei vielen zum Verarbeitungsprozess dazu. Man erinnert sich an Dinge, die man in der Vergangenheit gut gemeistert hat („Aber ich war doch so oft beruflich im Ausland, das ginge doch gar nicht als Autist*in!) – oft gefolgt von der Erkenntnis: „Oh, aber das erklärt vielleicht, warum ich bei jedem Auslandsaufenthalt Migräne hatte.“ (oder hinterher 2 Wochen krank, oder Panikattacken vor der Abreise, oder Durchfall, oder Angstzustände…)
Wie geht es für spätdiagnostizierte Autist*innen weiter?
Als erstes braucht man häufig eine Zeit, um sich an die Diagnose zu gewöhnen, das ist vollkommen ok und geht vielen so. Wem will ich das erzählen? Muss ich mich rechtfertigen? Wird man mir das glauben?
Finde heraus, wem du es als erstes erzählen magst und probiere aus, wie es sich anfühlt. Es kann sogar einfacher sein, es bei der Arbeit zu erzählen als den Eltern – für andere ist es genau anders herum.
Genau wie nach der Diagnose bei Kindern, können auch Erwachsene mit Autismus einen Grad der Behinderung beantragen und gegebenenfalls einen Pflegegrad, wenn sie auf Hilfe im Alltag angewiesen sind. Mehr dazu findest du im Artikel „nach der Autismus-Diagnose„. Außerdem findest du hier einen Artikel zu Anpassungen im Berufsalltag.
„Entmaskieren“ – wer bin ich eigentlich wirklich?
Maskieren bedeutet, dass man sich – bewusst oder auch unbewusst – verstellt, anpasst, Dinge von anderen Personen übernimmt oder spiegelt. Viele haben bereits in der Kindheit gelernt, nicht aufzufallen und versuchen so zu sein wie „die anderen“. Dadurch versucht man Mobbing, dummen Sprüchen und Konflikten aus dem Weg zu gehen, aber man möchte auch einfach gemocht werden und dazugehören.
„Anwesenheit von Anderen war Arbeit. Man musste was tun, was sagen, sein menschliches Gesicht aufsetzen.“
aus dem Roman „Wie sehr muss man sich eigentlich noch verstellen, um ENDLICH NATÜRLICH rüberzukommen?“ von Linus Volkmann
Erwachsene, die erst spät eine Diagnose erhalten, haben häufig ihr Leben lang stark maskiert – sie haben sich also angepasst und verstellt, um nicht aufzufallen. Viele Erwachsene mit Autismus fragen sich nach der Diagnose: Wer bin ich eigentlich wirklich. Mag ich eigentlich wirklich Fußball, oder interessiert es mich nur, weil früher alle Jungs Fußball wichtig fanden? Manchmal wird einem auch klar, wie viele Dinge man sehr bewusst gemacht hat – zum Beispiel sehr viel zu lächeln, um freundlich zu wirken (obwohl es anstrengend ist) oder immer wieder Augenkontakt herzustellen (obwohl man sich dann weniger konzentrieren kann). Schritt für Schritt fallen einem solche Punkte auf und dann kann man entscheiden: Tut mir das eigentlich gut? Fühlt sich das richtig an? Möchte ich daran etwas ändern? Wo und bei wem fühle ich mich sicher genug, um es anders zu machen?
Wir wünschen dir alles Gute auf deinem Weg. Schön, dass es dich gibt.
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