Autismus ist keine Krankheit sondern eine natürliche Variation des Neurotyps (so wie auch ADHS). Autismus hat viele Stärken, aber oft auch Schwierigkeiten. Daher kann ein Schwerbehindertenausweis auch bei Autismus sinnvoll sein. Was das genau ist und wie du ihn beantragst, liest du hier.
Ist Autismus eine Behinderung?
Unsere Gesellschaft ist für neurotypische Menschen gebaut (also für die Mehrheit – ohne Autismus, ADHS, Legasthenie, Tourette oder andere Neurodivergenzen). Für autistische Menschen ist die Welt voller Barrieren: zu laut, zu schnell, zu chaotisch, nicht erfüllbare soziale Erwartungen…
Autistische Menschen sind dadurch in der „Teilhabe an der Gesellschaft“ eingeschränkt. Sie können ihr Leben also nicht genauso einfach leben wie andere. Daher gilt Autismus als Behinderung. Der Grad der Behinderung wird danach bemessen, wie stark die Einschränkungen sind.
Was ist ein Schwerbehindertenausweis?
Bei einem Grad der Behinderung von 50 oder mehr spricht man offiziell von „Schwerbehinderung“. Damit hat man Anspruch auf einen Schwerbehindertenausweis. Ein Schwerbehindertenausweis ist eine Karte ähnlich wie der Personalausweis. Ab dem elften Geburtstag ist er in der Regel mit Passfoto. Auf dem Ausweis steht der Name, der Geburtstag und vor allem der Grad der Behinderung und die sogenannten Merkzeichen. Mehr zu den Merkzeichen bei liest du unten im Abschnitt über Merkzeichen bei Autismus.
Welche Vorteile bringt ein Schwerbehindertenausweis bei Autismus?
Ein Schwerbehindertenausweis bei Autismus bringt zahlreiche „Vorteile“. Eigentlich sollte man jedoch nicht von „Vorteil“ sprechen, sondern besser von „Nachteilsausgleich“. Dieser Ausgleich soll ermöglichen, dass man auch mit einer Behinderung möglichst die gleichen Chancen hat wie Menschen ohne Behinderung.
Das bringt der Schwerbehindertenausweis unter anderem:
- Steuervergünstigungen
- besondere Rechte im Arbeitsleben, z.B. mehr Urlaubstage und besserer Kündigungsschutz (siehe dazu den Artikel über Autismus im Beruf)
- kostenlose oder vergünstigte Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln wie Bus und Bahn (bei dem Merkzeichen B zusätzlich für eine Begleitperson) – muss zusätzlich beantragt werden.
- zum Teil vergünstigter Eintritt in Museen, Tierparks, Schwimmbäder usw.
Zusätzlich kann je nach Merkzeichen und Art der Behinderung auch ein Parkausweis für Behindertenparkplätze beantragt werden.
Schwerbehindertenausweis bei Autismus beantragen
Im Grunde wird kein Schwerbehindertenausweis beantragt, sondern zunächst die Feststellung des Grades der Behinderung. Liegt der Grad der Behinderung (GdB) über 50, gilt dies als Schwerbehinderung und die Person mit Autismus erhält einen Schwerbehindertenausweis.
Den Antrag erhältst du beim zuständigen Versorgungsamt. Im Kreis Steinburg, also für Itzehoe und Umgebung, ist das zuständige Versorgungsamt das Landesamt für soziale Dienste Heide. Hier kannst du den Antrag anfordern und dann ausfüllen und zurückschicken. Du kannst den Antrag auch online herunterladen, ausfüllen, ausdrucken und an das Versorgungsamt schicken.
Für eine realistische Beurteilung sollten neben der Diagnose auch alle Dokumente mitgeschickt werden, die deutlich machen, wie sich die Einschränkungen auswirken. Das können sein:
- medizinische Dokumente (Arztberichte, Stellungnahmen und Attests von Ärtz*innen)
- Therapieberichte (z.B. von der Ergotherapie, Logopädie, Physiotherapie, Autismus-Therapie)
- Bericht vom Medizinischen Dienst für die Begutachtung zum Pflegegrad (falls vorhanden)
- Stellungnahmen von Lehrkräften oder der Schulbegleitung
- Schulzeugnisse
Sehr hilfreich ist außerdem eine persönliche Stellungnahme dazu, wo die Person an der Teilhabe eingeschränkt ist. Dazu gehört z.B.:
- Bildung und Beruf (braucht die Person in der Schule bzw. im Beruf oder Ausbildung/Studium Unterstützung?)
- Mobilität (kann die Person ohne Unterstützung Auto fahren, öffentliche Verkehrsmittel nutzen, Flugreisen antreten, zu Fuß gehen, Fahrrad fahren usw.)
- Partnerschaft und Familie (kann die Person ohne Unterstützung eine Beziehung führen und sich um Kinder kümmern?)
- Freundschaft und Sozialleben (kann die Person ohne Unterstützung Freundschaften pflegen, an sozialen Treffen teilnehmen usw.)
- Sport, Kultur, Freizeit (kann die Person an Vereinssport teilnehmen, Urlaube unternehmen, ins Schwimmbad gehen, kulturelle Einrichtungen, Konzerte usw. ohne Unterstützung besuchen)
- Haushalt (kann die Person ohne Unterstützung den Haushalt führen, Einkaufen gehen, Kochen usw.)
Auch wenn wir ansonsten immer versuchen sollten uns nicht mit neurotypischen Menschen zu vergleichen – an dieser Stelle ist es richtig. Man sollte nicht denken „Ach, so schlimm ist es ja nicht, dass ich nicht einkaufen gehe, sondern meine Lebensmittel online bestelle.“ oder „Naja, macht ja nichts, dass ich nicht Auto fahre. Bus und Bahn sind ohnehin besser fürs Klima.“ – oder andersherum „Ich kann zwar nicht Bus und Bahn fahren, aber das ist ja nicht schlimm, weil ich ein Auto habe.“ Das ist zwar genau die richtige Einstellung fürs Leben. Aber für diesen Antrag sollten genau diese Punkte benannt werden.
Schwierig kann es auch sein zu benennen, was man nicht „kann“. Denn viele autistische Menschen können ihre Bedürfnisse für eine Zeit unterdrücken und maskieren – aber bezahlen dann einen hohen Preis. Nach einer Geburtstagsfeier zwei Tage im Bett bleiben? Nach dem Einkauf nicht mehr die Kraft zum Kochen haben? Das sind Dinge, die häufig nicht gesehen werden – auch von einem selbst häufig nicht.
Diese Bewertung über sich selbst (oder das Kind) zu schreiben, kann auch sehr schmerzhaft sein. Man führt sich ganz direkt vor Augen, was nicht geht. Wie das Leben vielleicht ohne Autismus aussehen würde. Das kann weh tun und vielleicht schämt man sich sogar dafür, dass man darüber traurig ist. Es ist ok, diese Gefühle zu haben. Damit bist du nicht alleine.
Welcher Grad der Behinderung bei Autismus?
Die Versorgungsmedizinverordnung regelt, welchen Grad der Behinderung (GdB) für welche Krankheiten und Einschränkungen möglich ist. Autismus ist bei jeder Person anders. Daher ist es wichtig, möglichst genau zu beschreiben, wo man konkret eingeschränkt ist.
Die Verordnung unterscheidet grob drei Abstufungen, wie stark die sozialen Anpassungs-Schwierigkeiten sind:
- ohne (GdB 10–20)
- leicht (GdB 30–40)
- mittel (GdB 50–70)
- schwer (GdB 80–100)
In der Erklärung der Verordnung wird folgendes beschrieben:
„Soziale Anpassungsschwierigkeiten liegen insbesondere vor, wenn die Integrationsfähigkeit in Lebensbereiche (wie zum Beispiel Regel-Kindergarten, Regel-Schule, allgemeiner Arbeitsmarkt, öffentliches Leben, häusliches Leben) nicht ohne besondere Förderung oder Unterstützung (zum Beispiel durch Eingliederungshilfe) gegeben ist oder wenn die Betroffenen einer über das dem jeweiligen Alter entsprechende Maß hinausgehenden Beaufsichtigung bedürfen.
Mittlere soziale Anpassungsschwierigkeiten liegen insbesondere vor, wenn die Integration in Lebensbereiche nicht ohne umfassende Unterstützung (zum Beispiel einen Integrationshelfer als Eingliederungshilfe) möglich ist.
Schwere soziale Anpassungsschwierigkeiten liegen insbesondere vor, wenn die Integration in Lebensbereiche auch mit umfassender Unterstützung nicht möglich ist.“
Schwerbehinderung bei Autismus welche Merkzeichen?
Auf dem Formular für die Feststellung des Grades der Behinderung kann man bereits ankreuzen, welche Merkzeichen man beantragen will.
Es gibt folgende Merkzeichen im Schwerbehindertenausweis:
- H – Hilflosigkeit
- B – Begleitperson
- G – erhebliche Gehbehinderung
- aG – außergewöhnliche Gehbehinderung
- RF – Ermäßigung des Rundfunkbeitrags
- TBl – Taubblindheit
Bei Autismus wird für den Schwerbehindertenausweis häufig das Merkzeichen H (Hilflosigkeit) oder B (Begleitperson) vergeben.
Widerspruch gegen Grad der Behinderung bei Autismus
Der Bescheid vom Versorgungsamt ist da und der Grad der Behinderung erscheint dir zu niedrig? Dann solltest du schnell innerhalb der Frist von vier Wochen Widerspruch einlegen.
Wichtig: Der Widerspruch muss innerhalb dieser 4-Wochen-Frist erfolgen. Ein Brief per Einschreiben kann hier sinnvoll sein. So kann man nachweisen, dass der Brief rechtzeitig zugestellt wurde.
Für den Widerspruch reicht es, einen „formlosen“ Brief zu schreiben – das bedeutet, du brauchst kein spezielles Formular. Es reicht, wenn du schreibst:
„Hiermit lege ich Widerspruch ein gegen den Bescheid zur Feststellung des Grades der Behinderung bei *Name* vom *Datum*. Eine ausführliche Begründung folgt.“
Du kannst zusätzlich Akteneinsicht einfordern, um genauer zu sehen, wie die Beurteilung zustande kommt.
In den nächsten Tagen solltest du alles zusammensuchen und anfordern, was beim Widerspruch hilfreich ist.
- Sind seit dem ersten Antrag neue medizinische Berichte hinzugekommen?
- Wenn nicht: Kann die zuständige Ärztin vielleicht eine zusätzliche Stellungnahme schreiben (z.B. dass die Person häufig krank gemeldet werden muss, auf bestimmte Medikamente angewiesen ist oder ähnliches)
- Gibt es neue Therapieberichte?
- Wenn nicht, kann die Autismus-Therapeutin eine zusätzliche Stellungnahme schreiben?
- Kann die Schule eine Stellungnahme schreiben oder die Schulbegleitung (falls das nicht schon im ersten Antrag dabei war)
- Ist seit dem ersten Antrag eine Klassenwiederholung oder ähnliches passiert?
- Hattest du ein Beiblatt mit einer persönlichen Stellungnahme dabei? Wenn nicht, kannst du das jetzt nachholen (siehe oben).
Was mache ich, wenn ich den Schwerbehindertenausweis habe?
Du bist nicht verpflichtet, deinen Schwerbehindertenausweis vorzuzeigen. Auch bei der Arbeit musst du nicht offen legen, dass du schwerbehindert bist oder was genau deine Behinderung ist – solange es keinen Einfluss auf deine Arbeitsfähigkeit hat. Insbesondere wenn Menschen gefährdet werden können, muss unbedingt mit dem Arbeitgebenden gesprochen werden. Zum Beispiel wenn mit Epilepsie große Maschinen oder Fahrzeuge bedient werden. Mit dem Schwerbehindertenausweis hast du bei der Arbeit das Recht, dass der Arbeitsplatz und die Arbeitsbedingungen so angepasst werden, dass du gut und gesund arbeiten kannst.
Mehr zum Thema Autismus und Beruf findest du in diesem Artikel.
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